Lebensweltorientierung nach Thiersch einfach erklärt

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Der deutsche Erziehungswissenschaftler und Sozialpädagoge Hans Thiersch hat das Konzept der Lebensweltorientierung entwickelt und in die Pädagogik und Soziale Arbeit gebracht. Damit hat Hans Thiersch einen Perspektiv- und Blickwechsel in der Pädagogik auf den Weg gebracht, welche eine Sensibilisierung für den individuellen Menschen in seiner ganz eigenen Lebenswelt schafft. Das Konzept der Lebensweltorientierung ist vor allem auf die Soziale Arbeit bezogen, lässt sich aber in sämtlichen Bereichen der Pädagogik anwenden. Hans Thierschs Konzept ist komplex und vielseitig, beachte bitte, dass es sich bei diesem Beitrag nur um einen kleinen Ausschnitt handelt. Schauen wir uns als jetzt an, was mit der Lebensweltorientierung genau gemeint ist.

Inhaltsverzeichnis

Ziel und Idee der Lebensweltorientierung nach Thiersch

Das Konzept der Lebensweltorientierung knüpft an die subjektiven Sichtweisen, Bedürfnisse und Möglichkeiten der einzelnen Menschen an und sieht damit die Person als Experten seines eigenen Lebens an. Hans Thiersch ist Gegner davon, die pädagogische Fachkraft als Experten für das Leben anderer Menschen zu betrachten. Die Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Die Lebenswelten von Menschen können auf verschiedenen Ebenen individuell verlaufen. Diese individuellen Lebenswelten haben Auswirkungen auf den Menschen. Das Kind beispielsweise dabei zu begleiten Bewältigungsstrategien zu erproben, zu reflektieren und schlussendlich für sich zu finden. Diese sollten auf die eigene individuelle Lebenssituation passen und dadurch zu einer selbstwirksamen und selbsterfüllenden Lebensführung beitragen. Die gesellschaftlichen Werte und Normen und Gesetze müssen dabei berücksichtigt werden. Ziel dieses Ansatzes ist die Prävention, die Partizipation und schlussendlich die Inklusion. In unserem Fall bei der Arbeit als Erzieher oder Erzieherin haben die Lebenswelten Auswirkungen auf das einzelne Kind oder den Jugendlichen. 

Lebensweltorientierung Hans Thiersch

Grundannahmen der Lebensweltorientierung

Des Konzept der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch unterliegt bestimmte Grundannahmen:

Grundannahme 1:
Jeder Mensch ist Experte in seinen Lebenswelten und seiner Lebenssituation.
Der Mensch hat sein Leben gelebt er hat es bis zu dem Zeitpunkt an dem er jetzt gerade steht bewältigt und Erfahrungen gesammelt. Das ist anzuerkennen.

Grundannahme 2:
Jeder Mensch hat normative und nonnormative Entwicklungsaufgaben zu bewältigen.

Normative Entwicklungsaufgaben: Entwicklungsaufgaben die alle Personen einer gewissen Kultur bewältigen müssen. Beispielsweise die Einschulung und generell das Durchlaufen der Schullaufbahn. Ein anderes Beispiel ist die Pubertät. Diese Entwicklungsaufgaben sind quasi die Norm, die jede Person zu durchlaufen und zu bewältigen hat.
Nonnormative Entwicklungsaufgaben: Entwicklungsaufgaben die individuell sind und sich meist aus Ereignissen ergeben. Sie treffen nicht auf jede Person zu. Das kann beispielsweise die Trennung der Eltern sein. Oder der Umzug in eine andere Stadt und die Bewältigung der Folgen. Diese Entwicklungsaufgaben sind nicht die Norm, sie sind individuell.

Grundannahme 3:
Jeder Mensch setzt sich seine eigenen Ziele. Der eine Mensch möchte früh eine Familie gründen, der andere Mensch möchte ein großartiges Studium abschließen und beruflich Karriere machen, ein andere Mensch möchte ein Unternehmen gründen und noch ein anderer Mensch möchte alle Länder dieser Erde bereisen. Alle diese und noch viel mehr Ziele haben ihre Berechtigung.

Grundannahme 4:
Jedes menschliche Verhalten und Handeln ist ein Bewältigungshandeln. Also ein Handeln welches dazu dient, in der individuellen Lebenswelt klar zu kommen.

Grundannahme 5: Die Bewältigung wird als erfolgreich empfunden, wenn sie vom Menschen selbstwirksam durchgeführt wurde.

Hans Thiersch Lebensweltorientierung

Eine pädagogische Fachkraft die nach der Lebensweltorientierung und dem Lebensweltkonzept arbeitet, muss diese Grundannahmen anerkennen, um sich so auch wirklich an der Lebenswelt des Kindes, des Jugendlichen oder Erwachsenen zu orientieren. Daraus ergibt sich die logische Folge, dass Menschen und ihre Bedürfnisse einfach individuell sind. Es gibt kein Handbuch nach dem jedem Menschen geholfen werden kann, vor allem kann man Menschen und ihre Lebensentwürfe nicht in eine Form pressen. Um das Konzept der Lebensweltorientierung aber wirklich verstehen zu können, sind wichtige Vorabinfos zur Entstehung und Grundidee nötig.

Individualisierung und Pluralisierung

Thiersch, der 1935 geboren wurden, beobachtete über die Jahrzehnte die immer weiter fortschreitende Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen. Die Lebensläufe und Lebenswege einzelner Personen wurden immer individueller, die Menschen hatten durch die Änderung gesellschaftlicher Gegebenheiten mehr Handlungsspielräume in den Möglichkeiten ihr Leben zu gestalten. Deshalb wird auch von einer Individualisierung und Pluralisierung der Lebensführung gesprochen.

Diese individualisierten Lebensläufe werden als „riskanter“ beschrieben, dadurch, dass es mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten gibt
und es keinen maßgefertigten und vorgegebenen Weg gibt, an dem sich der Mensch orientieren kann. Ein großer Vorteil dabei ist, dass sich der Mensch frei und individuell entfalten kann und in keinen unpassenden Lebensentwurf gepresst wird. Nachteil dabei ist, dass diese Freiheit zwingend ein hohes Maß an Eigenverantwortung zur Folge hat, eben weil es keinen vorgefertigten Weg gibt und jede Person eben diesen Weg für sich selbst finden muss. Es gibt kein Rezept für ein gelungenes Leben, das muss ebenfalls jedes Person für sich selbst herausfinden. Es gibt also keine normativ festgesetzten Lebensläufe mehr wie noch einige Jahrzehnte zuvor.

Lebensweltorientierung Hans Thiersch

Früher beispielsweise: Mädchen und jungen Frauen werden darauf vorbereitet, später den Haushalt zu schmeißen und Kinder zu bekommen. Der Mann hat eine Ausbildung gemacht um früh Geld für die Familie zu verdienen. Meist hat der Mann den gleichen oder einen sehr ähnlichen Beruf wie der Vater ausgeübt. Es wurde geheiratet und ein Haus gebaut. Die Werte und Normen wurden an die eigenen Kinder weitergegeben. Das war so und es wurde auch nicht hinterfragt, es bestand auch gesellschaftlich nicht die Möglichkeit dies anders zu machen.

Heute wird eine Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen von Menschen beschrieben. Das bedeutet, das Leben wird auf vielen verschiedenen Ebene total individuell gestaltet. Dies hat deutliche Auswirkungen auf die pädagogische Arbeit. Pädagogische Fachkräfte mussten im Laufe der Zeit umdenken. Weg von dem Blick, dass die Pädagogen zeigen, wo es lang geht, zu dem Blick, dass die Pädagogik eine Hilfe zur Selbsthilfe bietet

Die Ebenen der Individualisierung

Wir haben gelernt, dass Lebensläufe immer individueller ablaufen und keinem festen vorgefertigten ‚Ablaufplan‘ mehr unterliegen. Das wird auch Individualisierung genannt. Wir wollen uns jetzt die einzelnen Ebenen der Individualisierung anschauen.

  • Die Ebene der Familienformen
    (Besteht die Familie aus Mutter / Vater? Mutter / Mutter? Vater / Vater? Verheiratet? Nicht verheiratet? Leben die Familie zusammen? Oder vielleicht in einer Kommune?)
  • Die Ebene der beruflichen Biographie
    (Ausbildung, keine Ausbildung, Studium, KünstlerInnen, Arbeit im Homeoffice oder Arbeiten mit mehrtägigen oder mehrwöchigen Dienstreisen)

  • Die Ebene der Wohnform
    (als Familie in einem Haus oder einer Wohnung, auf dem Land oder in der Stadt, häufige Umzüge, vielleicht auch in verschiedenen Ländern und so weiter)
  • Die Ebene der Werte und Normen
    (Welche Werte und Normen sind dem Menschen wichtig, sind ihm materielle Dinge wichtig? Ist ihm die Umwelt wichtig? Ist er vielleicht ein Tierschützer?)

  • Die Ebene der Kultur
    (Beispielsweise bei Jugendlichen die Subkulturen)

In unserem Fall als Erzieher oder Erzieherin sind es meist die Entscheidungen der Eltern auf diesen einzelnen Ebenen, die sich auf das Kind oder den Jugendlichen und deren Lebenswelt auswirken. 

Unterschied Lebenswelt und Lebenslage

Um die Möglichkeit der Individualität noch weiter zu konkretisieren, ist es wichtig, zwischen Lebenswelt und Lebenslage zu unterscheiden. Egal in welchem Arbeitsbereich du arbeitest, du wirst immer auf Menschen treffen, die in ihrer eigenen Lebenswelt leben. In ihrer Lebenswelt wachsen sie auf und werden dort groß. An dieser Stelle möchte ich auf das Konzept von Bourdieu zum Habitus verweisen. 

Die Lebenswelt wird als das bezeichnet, was das Individuum, also in unserem Fall das Kind oder der Jugendliche, selbst wahrnimmt. Du als pädagogische Fachkraft beobachtest beispielsweise das Kind, tauscht dich mit ihm aus und versuchst möglichst viele Faktoren der Lebenswelt des Kindes wahrzunehmen, um möglichst individuell auf das Kind eingehen zu können. Du versuchst die Einflussfaktoren, die sich auf das Leben des Kindes auswirken, zu erkennen. Diese Außenwahrnehmung und Analyse des Lebens des Kindes wird als Lebenslage bezeichnet. In einer Planung, einem Projekt oder Angebot kannst du also unter dem Punkt „Lebenslage des Kindes“ die Dimensionen nennen.

Die Dimensionen der Lebenslage

Es gibt unterschiedliche Dimensionen der Lebenslagen von Menschen. Diese Dimensionen wollen wir uns jetzt anschauen.

Die materielle Versorgung
Wie wird das Kind versorgt? Herrscht in der Familie materieller Überfluss? Oder wächst das Kind in einer Familie auf bei der es überwiegen darum geht die materielle Existenz immer wieder sicherzustellen.

Der kulturelle Bereich
Aus welchem sozialen Milieu kommt das Kind? Gibt es einen bestimmten religiösen oder kulturellen Hintergrund?

Der soziale Bereich
In welchem sozialen Umfeld lebt das Kind? Hat das Kind Geschwister? Eine Familie?

Die psychische und physische Lage
Wie ist der psychische und physische Zustand des Kindes? Gibt es Erkrankungen oder Behinderungen? Ist das Kind introvertiert oder extrovertiert? Ist es selbstsicher oder unsicher?

Thiersch Lebensweltorientierung

Diese Dimensionen werden von Faktoren beeinflusst. Dazu gehören gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Lebenssituation der Eltern, institutionelle Rahmenbedingungen und das soziale Umfeld und Netzwerk. Aus all diesen Punkten ergibt sich die Situation in der sich das Kind oder der Jugendliche heute befindet.

Handlungsdimensionen und die Grundsätze

Aus den Dimensionen der Lebenslage entspringen sogenannte Handlungsdimensionen und Handlungsgrundsätze an denen sich das pädagogische Handeln orientieren sollte.

Gegenwart:
Dieser Handlungsgrundsatz bezieht sich auf die Bedeutsamkeit im Hier und Jetzt im Leben des Kindes. Durch die Individualisierung und stetigen Veränderungen gesellschaftlicher Gegebenheiten, ist die Zukunft für den Einzelnen häufig ungewiss. Deshalb geht es darum, das Leben im Hier und jetzt zu bewältigen und die Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist die Begleitung des Menschen bei der individuellen Lebensbewältigung im Hier und Jetzt. Kompetenzen und Fähigkeiten werden jetzt erworben und stehen dem Menschen dann später auch noch zur Verfügung, aber vielleicht benötigt er dann ganz andere Fähigkeiten und Kompetenzen, welche dann zu dem Zeitpunkt erlernt werden. Die Schule beispielsweise verfolgt diesen Handlungsgrundsatz eher weniger (bis gar nicht). Es werden abstrakte Fähigkeiten und Kompetenzen vermittelt die in frühstens 10 Jahren zum Schulabschluss führen, vielleicht sogar nie wieder gebraucht werden.

Lebensweltorientiert Thiersch

Raum:
Damit ist der Lebensraum und die Lebenswelt gemeint in der das Kind lebt. Dies wird von der pädagogischen Fachkraft wahrgenommen und berücksichtigt. Es findet eine Orientierung an der Lebenswelt des Kindes statt, im Idealfall wird der Lebensraum des Kindes mitgestaltet, so, dass das Kind Teilhabe und Zugang zu entwicklungsfördernden Lebensräumen erfährt.

Soziale Bezüge:
Dazu zählt das soziale Umfeld. In der Mitte steht das Kind, welche Menschen umgeben das Kind? Wie gestaltet sich die Kernfamilie? Gibt es weitere Verwandte? Freunde und Peer Groups? Geht das Kind in einer Kindergartengruppe, wie ist dort der Anschluss? Wie sieht die Nachbarschaft aus? Geht das Kind in einen Verein? Welche Ressourcen stecken in den sozialen Bezügen und wie kann daran angeknüpft werden?

Alltag:
Aus den vorherigen drei Handlungsdimensionen (Gegenwart, Raum, soziale Bezüge) formt sich so gesehen die Dimension des Alltags des Kindes. Der Alltag ist ebenfalls sehr individuell, es entstehen komplexe Alltagsaufgaben. Einige Aufgaben sind bei vielen Menschen gleich, andere sind sehr individuell. Die Herausforderung für Kinder und Jugendliche ist es die Strukturen in ihrem Alltag zu erkennen und sich im Zusammenwirken der zeitlichen, räumlichen und sozialen Bedingungen zu orientieren. Dadurch ist es möglich die aktuellen Entwicklungsaufgaben des Alltags und der aktuellen Lebenssituation selbstwirkam zu bewältigen.

Gesellschaftliche Bedingungen:
Die Gesellschaft und die Politik beeinflussen maßgeblich die Bedingungen dieser Dimension und wirken sich damit unmittelbar auf die Lebenswelt des Kindes oder des Jugendlichen aus. Wie wird das Bildungssystem strukturiert? Wie viele Gelder stehen zur Verfügung? Erkennt die Gesellschaft den Wert frühkindlicher Bildung an und sorgt die Politik dafür, dass es gut qualifizierte Fachkräfte in den Einrichtungen gibt? Oder kommt es zu chronischer Unterbesetzung und einem Fachkräftemangel? Auch die Auswirkungen einer Pandemie können auf dieser Dimension verortet werden. Diese Dimension wirkt sich ebenfalls auf den Alltag und die Lebenswelt des Kindes aus. Die pädagogische Fachkraft muss das eigene Handeln an diese Handlungsdimension anpassen.

Hilfe zur Selbsthilfe:
Jeder Mensch ist der Experte seines eigenen Lebens und der eigenen Lebensführung, mit eigenen Vorstellungen und Zielen. Das haben wir jetzt in diesem Beitrag wirklich häufig gehört. Aber dieser Grundsatz ist auch maßgeblich für das Lebenslagenkonzept und die Lebensweltorientierung. Daraus ergibt sich aber ganz deutlich, dass das Ziel der pädagogischen Fachkraft die Hilfe zur Selbsthilfe ist. Die Aufgabe eines Erziehers, einer Erzieherin ist es also den Menschen dabei zu unterstützen und zu begleiten das Leben nach den eigenen Vorstellungen, Zielen und Wünschen zu leben. Dabei müssen gesellschaftliche
Werte und Normen und Gesetze berücksichtigt und vor allem die Gesetzte eingehalten werden.

Thiersch Lebensweltorientierung

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