Der Ansatz der Lebensbewältigung wurde von Lothar Böhnisch entwickelt und hat die Soziale Arbeit und Pädagogik stark geprägt. Lothar Böhnisch beschreibt die Lebensbewältigung als das Streben nach Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit des Menschen in seinem eigenen Leben. Diesen Grundsatz hat Böhnisch in seinem Ansatz der Lebensbewältigung detailliert und praxisnah dargestellt. In diesem Beitrag wollen wir uns Böhnischs Ansatz einmal ganz genau anschauen.
Inhaltsverzeichnis
Wer war Lothar Böhnisch - die Lebensbewältigung
Lothar Böhnisch wurde am 17 Juni 1944 in Trautenau geboren und war Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation im Lebensalter. Er studierte Geschichte, Soziologie und Ökonomie in Würzburg und in München. Von 1981 bis 1984 war Lothar Böhnisch Direktor des deutschen Jugendinstituts.
Lothar Böhnisch ist vor allem bekannt für das Verfassen einer mittlerweile zur Grundlage gewordenen Theorie der sozialen Arbeit und Sozialpädagogik; dem Lebensbewältigungsansatz. Dieser bietet Erklärung für das menschliche Verhalten in Krisen. Böhnisch selbst formulierte den Begriff der Lebensbewältigung in seinem Konzept als;
„Das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen, in denen das psychosoziale Gleichgewicht – Selbstwertgefühle und soziale Anerkennung – gefährdet ist.“
Der Lebensbewältigungsansatz nach Böhnisch bietet Erklärung, Analyse und gleichzeitig die Möglichkeit zur Entwicklung von Handlungsalternativen in der praktischen Arbeit mit Menschen in krisenhaften Situationen. Auch wenn Böhnisch den Ansatz vor allem in Bezug auf junge Erwachsene und Jugendliche verfasst hat, lässt er sich auf Menschen aller Altersklasse anwenden, also von Kindern bis zu Senioren.

Lebensbewältigung ist das Streben nach Handlungsfähigkeit
Böhnisch formulierte, dass eine Grundannahme des Lebensbewältigungsansatzes lautet, dass der Mensch zur individuellen Lebensbewältigung eine biologisch verankerte intrinsische Motivation besitzt nach Handlungsfähigkeit in seinem Leben zu streben. Der Mensch möchte also sein Leben unter Kontrolle haben, es in eigenen Händen haben und eine Wirksamkeit verspüren. Eine Handlungsunfähigkeit ist für den Menschen laut Böhnisch nicht aushaltbar. Vereinfacht gesagt: Der Mensch möchte sein Leben bewältigen und dabei handlungsfähig sein.
Für die Pädagogik und soziale Arbeit ergibt sich daraus auch ganz klar; hinter dem Verhalten eines Menschen steckt eine Geschichte, ein Bedürfnis. Daran lässt sich anknüpfen, die Fachkräfte sollten dafür sensibilisiert sein und aufmerksam nachgehen, was den Menschen zu seinem jeweiligen Bewältigungshandeln bewegt.

Drei Formen der Handlungsfähigkeit
Damit der Mensch handlungsfähig ist und diese Handlungsfähigkeit erhalten werden kann, kommen laut Lothar Böhnisch drei verschiedene Verhaltensformen in Frage. Der Mensch versucht demnach handlungsfähig zu bleiben durch:
1. regressives Verhalten
Beim regressiven Verhalten wird zeitweise eine Handlungsfähigkeit hergestellt. Diese ist aber antisozial, kontraproduktiv, schädigend anderen und/oder sich selbst gegenüber. Beispielsweise dadurch, dass in der Schule der Unterricht gestört wird, andere deformiert oder gemobbt werden. Der Mensch versucht sein Selbst dadurch zu behaupten. Diese Verhaltensweise geht immer auf Kosten anderer Personen oder auf Kosten der eigenen Person, im schlimmsten Fall auf Kosten beider. Diese Verhaltensform stellt also einen antisozialen und selbst destruktiven Bewältigungsversuch dar. Diese Verhaltensform sollte vermieden werden.

2. einfaches Verhalten
Beim einfachen Verhalten kann der Alltag subjektiv befriedigend organisiert und bewältigt werden. Das gezeigte Verhalten der Person ist, im Gegensatz zur vorherigen Form, sozial verträglich. Die Person sucht sich jedoch nicht aktiv Hilfe zur Lösung des Problems. Die Möglichkeiten, Spielräume und Handlungsbedingungen können in der Regel nicht eingeschätzt werden. Man könnte auch sagen, der Mensch kommt in seinem Alltag irgendwie klar, ohne dass er dabei sich selbst oder anderen großartig schädigt. Das kann einerseits sein, weil er das Problem selbst nicht erkennt, sich nicht zu helfen weiß oder sich einfach nicht traut Hilfe zu suchen. Als Hilfen können die Eltern, pädagogische Fachkräfte bei Kindern, Beratungsstellen und Psychotherapeuten bei älteren Menschen, Peer Groups, Freunde, Familie und so weiter sein.

3. erweitertes Verhalten
Bei der erweiterten Verhaltensweise wird die Handlungsfähigkeit dadurch geschaffen, dass sich der Mensch in den Lebenswelten und Kontexten in denen er sich bewegt mitgestaltet und teilnimmt. Er partizipiert also an seiner sozialen Umwelt und kann die eben bei der einfachen Verhaltensweise genannten Hilfen abschätzen, sucht diese gegebenenfalls auch aktiv auf und kann die Möglichkeiten, Spielräume und Handlungsbedingungen einschätzen. Diese Verhaltensform ist das ideal und demnach anzustreben. Der Mensch sollte also den Weg dahin finden in krisenhaften Situationen dieses Verhalten zu zeigen, schafft er es nicht, dann sollten ihm Menschen dabei helfen.

Die Dimensionen der Lebensbewältigung
Das Konzept der Lebensbewältigung ist mehrdimensional angelegt. Lothar Böhnisch spricht hier auch von dem 3 Ebenen Modell des Lebensbewältigungsansatzes. Dadurch kann das Bewältigungshandeln der Einzelnen im Zusammenspiel mit der psychodynamischen, der soziodynamischen und der gesellschaftlichen Dimension analysiert werden. Diese 3 Ebenen werde ich jetzt darstellen.
Psychodynamische Dimension in der Lebensbewältigung
Diese Dimension beschreibt den tiefenpsychologischen Argumentationskern der Theorie. Der Grundantrieb des Menschen, also das innere Verlangen nach Handlungsfähigkeit, trifft auf die soziale Umwelt des Menschen. Dieses Zusammenspiel kann zu Spannungen führen und das innere Verlangen somit blockieren, beziehungsweise verhindern. Es kommt also möglicherweise zu einem Verlust von Anerkennung, der Selbstwirksamkeitserfahrungen, Rückhalt und so weiter. Diese Blockierung oder Verwehrung kann durch verschiedene Lebensereignisse oder krisenhafte Situationen entstehen. Also beispielsweise durch den Verlust eines Arbeitsplatzes, einer Erkrankung, Trennung oder Scheidung vom Partner, Tod einer geliebten Person und so weiter.

Beispiel für die psychodynamische Dimension
Um das Ganze etwas besser zu verstehen, möchte ich ein Beispiel nennen: Wir stellen uns Karl vor. Karl ist 10 Jahre alt und seine Eltern haben sich frisch in einem heiklen Rosenkrieg getrennt. Karl wurde dadurch der Boden unter den Füßen weggerissen. Karl hat die Streitereien, das Geschrei und Schlussendlich den Rauswurf seines geliebten Vaters hautnah miterlebt. Karls Vater und auch seiner Mutter sind sich in einem einig; die Schule darf nicht erfahren, dass ihre Ehe gescheitert ist und was bei ihnen Zuhause abläuft.

Zurück zur Theorie - psychodynamische Dimension
Kommt es zu einer krisenhaften Situation, dann ist es möglich, dass es zu einer inneren Hilflosigkeit beim Menschen kommt. Kann diese innere Hilflosigkeit nicht irgendwie aufgehoben werden, dann muss sie laut Lothar Böhnisch kommuniziert und thematisiert werden. Dadurch findet ein „Druckabbau“ statt. Es wird nach neuen möglichen Handlungsmöglichkeiten zur Bewältigung gesucht. Es folgt die einfache oder erweiterte Verhaltensweise. Ist dies nicht möglich, dann kommt es neben der Hilflosigkeit zu einer Sprachlosigkeit. Diese Sprachlosigkeit kann ein Mensch auf Dauer nicht akzeptieren oder hinnehmen, da er ja aus einer intrinsischen Motivation nach Handlungsfähigkeit strebt. Diese innere Hilflosigkeit führt zu wachsendem Stress und Selbstwirksamkeitsstörungen. Gehen wir wieder in das Beispiel mit Karl.

Zurück zum Beispiel
Nie hat jemand mit Karl über die Trennung gesprochen, es ist einfach so geschehen. Karl fühlt sich vollkommen hilflos, orientierungslos und er weiß nicht was er tun soll, außerdem weiß er nicht wirklich, was er fühlen soll. In der Schule weiß niemand davon, das wäre seinen Eltern ja auch extrem peinlich. Karl ist sauer auf seine Mitschüler, da diese heile Familien haben. Zurück zur Theorie.

Es folgt die Abspaltung des Menschen, die Folge können antisoziale und destruktive Bewältigungsversuche sein. Wie eingangs beschrieben also die regressiven Verhaltensweisen. Diese Abspaltung geschieht nach außen (also gegen andere) oder die Abspaltung geschieht nach innen (gegen sich selbst).
Karl fängt an den Unterricht mit Albereien und Scherzen zu stören. Karl hat das erste mal wieder das Gefühl etwas unter Kontrolle zu haben, auch wenn er dafür von seiner Lehrerin bestraft wird. Er bekommt positive Beachtung von den Mitschülern und negative Beachtung von der Lehrerin, aber das ist nicht so schlimm. Die Lehrerin gibt ihm Strafarbeiten auf und schmeißt ihn mehrfach aus dem Klassenraum. Niemand fragt Karl ernsthaft was bei ihm los ist, die Lehrkräfte sind überfordert. Die Situation spitzt sich zu. Karl fängt an auf dem Pausenhof Erstklässler zu ärgern, nimmt ihnen Dinge weg und prügelt sich mit ihnen. Seine Mitschüler haben Respekt vor Karl.

Karl fühlt sich großartig, er hat für eine kurze Zeit wieder Kontrolle und Macht in seinem Leben, fühlt sich stark und selbstwirksam und nicht mehr hilflos. In diesem Beispiel kam es zur Abspaltung von Karl nach außen, also destruktives Verhalten gegen Andere. Es hätte auch dazu kommen können, dass Karl sich selbst schädigt, beispielsweise durch selbstverletzendes Verhalten oder dadurch dass er sich selbst Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen einredet, dass sich seine Eltern getrennt haben.

Soziodynamische und interaktive Dimension
Diese Dimension wird in der Lebensbewältigung auch als relationale und intermediäre Ebene bezeichnet. Diese Ebene umfasst das Milieu in dem der Mensch aufwächst. Böhnisch beschreibt den Begriff des Milieus wie folgt:
„Mit dem Begriff ‚Milieu‘ beschreibe ich einen sozialräumlichen und sozialemotionalen Kontext der Gegenseitigkeit, in dem sich prosoziale Bewältigungskompetenzen entwickeln können“.
Das sind zum Beispiel Familien, Peer Groups, aber auch Organisationen, Schulen, die Arbeitswelt, Internetcommunities. Und diese Milieukulturen werden auch als Bewältigungskulturen begriffen Es stellt sich dann die Frage ob diese Milieu- und Bewältigungskulturen die Thematisierung fördern (also eine sozial erweiternde Bewältigungskultur vorliegt) oder die Abspaltung des Menschen fördert (also eine sozial regressive Bewältigungskultur vorliegt). Bewältigungskulturen beeinflussen also die Bewältigungsform (Abspaltung oder Thematisierung).

Beispiel für die soziodynamische Dimension
In unserem Fallbeispiel mit Karl wäre hier der Fokus auf der Familie, bzw. Karls Eltern. Hätten Karls Eltern die Trennung und die damit einhergehenden Konsequenzen mit Karl altersgerecht, fair und konstruktiv besprochen, wäre es wahrscheinlich nicht zu einer Abspaltung und den regressiven Verhaltensweisen von Karl in der Schule gekommen. Auch hätten Karls Eltern in der Schule Bescheid geben können, damit dort zumindest etwas mehr Verständnis für Karls Situation geherrscht hätte.
Auch Organisationen und Einrichtungen wirken sich auf Bewältigungsformen aus, beispielsweise könnte die Schule bei unserem Beispiel eingreifen und Karl dahingehend unterstützen, dass es die krisenhafte Lebenssituation des Kindes mit dem Kind thematisiert und ein konstruktive Bewältigungshandeln fördert. Auch wenn die Schule nichts von der Scheidung der Eltern gewusst hätte, wäre ein ernsthaft interessiertes Gespräch zwischen Lehrkraft und Karl sehr hilfreich gewesen.

Zurück zur Theorie - soziodynamische Dimension
Das Milieu indem eine Person aufwächst beeinflusst also die Bewältigungskultur, also ob etwas thematisiert wird (und somit förderliche Verhaltensweisen gefördert werden) oder ob es beim Menschen zur Abspaltung kommt. Schlussfolgernd also ob es bei dem anhaltenden Gefühl innerer Hilflosigkeit beim Menschen zu einfacher, erweiterter oder regressiver Bewältigung durch kommt.
Sozialstrukturelle und politische Dimension
Diese Dimension wird in der Lebensbewältigung auch als gesellschaftliche Dimension bezeichnet. Das ist die letzte der drei Dimensionen auf der Bewältigungshandeln von Personen analysiert werden kann. Böhnisch meint mit dieser Dimension die:
„ […] sozialstrukturelle Einbettung der Lebensverhältnisse und damit die ökonomisch-sozialen Ressourcen individueller Lebensbewältigung.“
Dazu zählt unter anderem…
- der sozioökonomische Status, Bildung, Rechte, Einkommen usw.
- Spielräume, die dem Menschen gesellschaftlich gewährt werden
- Sozialstrukturelle Ermöglichungen und Verwehrungen der Lebensführung und -bewältigung
Böhnisch nennt ebenso beengte Wohnverhältnisse, unzureichende Bildung und niedriges Einkommen als negativen Einfluss auf das individuelle Bewältigungsverhalten, dadurch wächst der Abspaltungsdruck.

Beispiel für die politische Dimension
Auf unser Beispiel bezogen bedeutet das, dass das Bewältigungshandeln von Karl einer gewissen Wahrscheinlichkeit unterliegt in Abhängigkeit davon in welchem Milieu er aufwächst. Da es sich bei Karl um ein Kind handelt, würde man sich den sozioökonomischen Status von Karls Eltern anschauen.
