Die bedürfnisorientierte Erziehung (auch bedürfnisorientierte Pädagogik) ist vor allem in den letzten Jahren in aller Munde im Pädagogikbereich. Vermutlich gibt es kaum ein pädagogische Konzept welches so häufig missverstanden wird wie die bedürfnisorientierte Erziehung. Die Kritik gegenüber der bedürfnisorientierten Pädagogik reicht von verweichlichter Pädagogik, Pädagogik ohne Regeln und einer Pädagogik welche Egoisten heranzieht. Der Kern des Konzept steht aber für etwas ganz anderes. Daher wollen wir in diesem Beitrag mal einen genauen Blick auf den Ansatz und das Konzept der bedürfnisorientierten Erziehung werfen.
Inhaltsverzeichnis
Bedürfnisorientierte Pädagogik - Was ist das?
Die bedürfnisorientierte Erziehung ist weniger eine Erziehungsmethode, als viel mehr eine grundsätzlich verinnerlichte Haltung im Erziehungs- und Bildungsprozess. Aber was macht diese Haltung genau aus? Und was versteht man unter der bedürfnisorientierten Erziehung?
Die bedürfnisorientierte Erziehung charakterisiert sich dadurch, dass eine Sensibilität auf die Bedürfnisse der Menschen gelegt wird. Der Grundsatz lautet, dass die Sensibilisierung für die Bedürfnisse einen deutlich positiven Effekt auf die menschliche Entwicklung hat, vor allem auf die von Kindern. Die bedürfnisorientierte Erziehung hat noch weitere positive Effekte, aber dazu später mehr.
Es geht dabei aber nicht (wie häufig angenommen) ausschließlich um die Erfüllung der Bedürfnisse des Kindes, sondern um die Wahrnehmung der Bedürfnisse aller am Erziehungsprozess beteiligten Personen. Diese unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen sind dabei gleichwürdig und jeder Mensch hat das Recht darauf.
Natürlich unterscheiden sich Bedürfnisse untereinander (starker Hunger oder Durst ist beispielsweise wichtiger als Fernsehen zu gucken), aber es wird keine Differenzierung zwischen Alter, Geschlecht oder sonstigem gemacht. Bedürfnisse des Kindes sind genauso wichtig und relevant, wie die Bedürfnisse von Erwachsenen. Die Bedürfnisse eines 3 jährigen Mädchens sind prinzipiell erstmal gleichwürdig zu den Bedürfnissen eines 35 jährigen Geschäftsmannes. Klingt für viele selbstverständlich, ist es aber leider nicht. Der Begriff hier ist Adultismus, du findest dazu hier ein ausführliches Video.

Das Kind ist schutzlos ausgeliefert - ungleiche Machtverteilung in der Pädagogik
Vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung ist es wichtig eine grundlegende Sache zu verstehen: Ss herrscht eine ungleiche Machtverteilung zwischen erwachsener Person und Kind/Jugendlichem (Macht im Sinne der Möglichkeit die eigenen Interessen und damit Bedürfnisse durchzusetzen). Das Kind ist massiv abhängig von Erwachsenen. Wenn der Erwachsene es so möchte, dann ist das was er sagt Gesetz. Das führt zu Problemen; wenn Erwachsene die Bedürfnisse der Kinder nicht wahrnehmen wollen oder überhaupt nicht darauf sensibilisiert sind, dann hat das Kind keine Chance und ist ausgeliefert. Die bedürfnisorientierte Erziehung möchte hier entgegenwirken und sensibilisieren.

Bedürfnisorientierte Erziehung - Bedürfnisse wahrnehmen und kommunizieren
Es gibt kein Handbuch nach dem man sich richten kann. Wie eingangs erwähnt ist die bedürfnisorientierte Pädagogik ja keine Methode, sondern eine Haltung. Daher bedarf es einem Verständnis für diese Haltung und einfach Übung. Das eigene Handeln sollte dahingehend kritisch hinterfragt und reflektiert werden. Schauen wir uns an, welche Schritte wichtig sind.
Im ersten Schritt geht es erstmal darum, die Dynamiken der ungleichen Machtverteilung zu verstehen. Als nächstes ist es wichtig, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen und diese offen anzusprechen und zu kommunizieren.
Positivbeispiel: „Ich sehe, du bist gerade total frustriert, dass du deine Schuhe nicht richtig anbekommst. Wenn du möchtest, dann probieren wir es zusammen!“
Negativbeispiel: „Du bist 5 Jahre, jetzt sieh mal zu, dass du die Schuhe anbekommst, ich mach das sicher nicht für dich!“

Bedürfnisorientierte Erziehung - Der Abgleich von Bedürfnissen
Ein weiterer Grundsatz lautet ja, dass es nicht nur um die Bedürfnisse des Kindes geht, sondern um die Bedürfnisse aller am Erziehungsprozess beteiligten Personen. Also auch der pädagogischen Fachkräfte und Eltern beispielsweise. Was passiert, wenn sich Bedürfnisse gegenüberstehen, die nicht zueinander passen?
Die Mutter hatte einen langen Arbeitstag, ist total müde und hat das Bedürfnis sich auf der Couch auszuruhen. Ihre 4 jährige Tochter konnte sich aufgrund des schlechten Wetters in der Kita nicht ausreichend austoben. Sie hat das starke Bedürfnis nach Bewegung und Action! Es geht jetzt nicht darum, dass die Mutter sofort ihr eigenes Bedürfnis zurückstellt und das Bedürfnis ihrer Tochter befriedigt. Die beiden Bedürfnisse (Mutter=ruhe/ Tochter=action) sollten offen kommuniziert werden, dann sollte ein Abgleich stattfinden.
Positivbeispiel: „Ich weiß, dass du dich gerade mit mir zusammen austoben möchtest, aber ich hatte einen total anstrengenden Tag. Ich möchte mich gerne 15 Minuten auf der Couch ausruhen und dann können wir was zusammen unternehmen!“
Negativbeispiel: „Mein Gott, ich hab den ganzen Tag gearbeitet, du nervst mich mit deiner Lautstärke total, nimm mal bitte etwas Rücksicht auf mich!“

Es findet also ein Austausch über die Bedürfnisse statt. Die Mutter nimmt das Bedürfnis der Tochter wahr (nach Bewegung) und kommuniziert es. Die Tochter wird sich verstandener fühlen. Zusammen mit der Erklärung (es ist keine Rechtfertigung für das Handeln) handelt sich im Sinne der bedürfnisorientierten Erziehung. Natürlich ist es nicht immer so eindeutig und in manchen Fällen besteht eine Partei dennoch auf ihr Bedürfnis. Daher spricht man von einem abwägen der Bedürfnisse mit aufrechter und wertschätzender Kommunikation. So kann eine bestmögliche Lösung für alle gefunden werden.
Vermeintliche Kritik an der bedürfnisorientierten Erziehung
Es geht nicht darum, dass die erwachsene Person um jeden Preis alle Bedürfnisse des Kindes ausnahmslos befriedigt und nur noch damit beschäftigt ist, dem Kind „gerecht“ zu werden. Das ist in den meisten Fällen gar nicht möglich und würde zu einer destruktiven Selbstaufgabe des Erwachsenen führen. Auch geht es nicht darum, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen, um den Bedürfnissen des Kindes zu folgen. Dieses Missverständnis stellt oft einen vermeintlichen Kritikpunkt dar; Kinder würden so zu egozentrischen Menschen erzogen werden, denen es nur noch darum geht, die eigenen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, egal wie es anderen geht. Aber ganz genau darum geht es nicht. Dadurch, dass über Bedürfnisse einzelner Personen offen gesprochen wird, lernt das Kind nämlich genau das Gegenteil. Es ist nicht der alleinige Mittelpunkt der Welt. Natürlich sind seine Bedürfnisse total wichtig, aber eben auch die Bedürfnisse der anderen Menschen.
Es geht bei der bedürfnisorientierten Erziehung also um die Haltung und Sensibilität, dass hinter jedem Handeln eines Menschen ein Bedürfnis steckt. Es darum geht, dieses Bedürfnis sichtbar zu machen, zu kommunizieren und die unterschiedlichen Bedürfnisse untereinander abzugleichen. Das führt zu mehr Verständnis, einem friedvolleren Zusammenleben und allen voran einer empathischen Grundhaltung.
